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Keine Sittenwidrigkeit eines Pflichtteilserlasses durch einen Sozialhilfeempfänger

Das Sozialhilferecht ist von dem Grundsatz geprägt, dass jeder nur insoweit staatliche Hilfe beanspruchen kann, als er die betreffenden Aufwendungen (insbesondere den Lebensunterhalt) nicht durch den Einsatz eigener Einkünfte und eigenen Vermögens bestreiten kann, er somit bedürftig ist (Nachranggrundsatz, Subsidiaritätsprinzip). Notarielle Gestaltungen können mit diesem Grundsatz in Konflikt geraten, wenn sie darauf gerichtet sind, die Bedürftigkeit einer Person gezielt herbeizuführen.

Sittenwidrigkeit von Pflichtteilsverzichts- bzw. –erlassverträgen umstritten

Vor dem Hintergrund dieses sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatzes wurden Verzichtsverträge, die zum Ziel haben, den gesetzlichen Pflichtteil des Bedürftigen zu beseitigen, zum Teil lange als sittenwidrig eingestuft. Bereits im Jahr 2011 hatte der BGH jedoch entschieden, der zu Lebzeiten des Erblassers beurkundete Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialleistungsbeziehers sei grundsätzlich nicht sittenwidrig. Nunmehr hat mit dem OLG Hamm (Urteil vom 09.11.2021, 10 U 19/21) ein erstes Obergericht diese Rechtsprechung auf einen nach dem Tod des Erblassers gegenüber den Erben erklärten Pflichtteilserlass übertragen.

OLG Hamm lehnt Sittenwidrigkeit ab

Der klagende Sozialhilfeträger nahm aus übergeleiteten Recht die verwitwete Alleinerbin auf Auskunft über den Nachlass zur Bestimmung der Höhe des Pflichtteils in Anspruch. Das behinderte Kind des Erblassers, das im gemeinsamen Testament der Eheleute enterbt worden war, hatte nach dessen Tod seiner Mutter als Alleinerbin zur notariellen Urkunde den Pflichtteil erlassen. Der Sozialhilfeträger beruft sich in der Klage auf die Sittenwidrigkeit des Verzichtsvertrags.

Das OLG Hamm folgt dieser Argumentation nicht. Der Nachranggrundsatz sei im Gesetz lediglich fragmentarisch umgesetzt, sodass dieser mangels Prägekraft kaum als übergeordnetes Prinzip fungieren könne. Vielmehr weise das Prinzip des Familienlastenausgleichs die genuin der Familie entstehenden finanziellen Lasten aus der Versorgung, Erziehung und Betreuung eines Kindes zu einem gewissen Teil endgültig der Allgemeinheit zu. Darüber hinaus wird das Prinzip der Privatautonomie bemüht: Wenn schon der (potenzielle) Sozialleistungsempfänger autonom und höchstpersönlich über die Annahme bzw. Ausschlagung der Erbschaft entscheiden könne, so müsse dessen negative Erbfreiheit erst recht einen vor dem Erbfall erklärten Pflichtteilsverzicht wie auch einen erst nach dem Erbfall geschlossenen Erlassvertrag umschließen. Schließlich entspreche die Nichtgeltendmachung von Pflichtteilsansprüchen nach dem Tod des erstversterbenden Ehegatten regelmäßig den elterlichen Erwartungen. Ein Verzicht drücke Loyalität und Rücksicht gegenüber der Familie aus und sei deswegen sittlich billigenswert.

Fazit

Durch die Entscheidung werden auch für diejenigen Familien gestalterische Spielräume eröffnet, die zu Lebzeiten des Erblassers den Abschluss eines Pflichtteilsverzichtsvertrages versäumt haben. Ist für den Erlass jedoch keine Gegenleistung zu erbringen, kann ein Schenkungsregress nach § 528 BGB durch den Sozialhilfeträger in Betracht kommen. Schließlich ist die Frage, ob ein Pflichtteilsverzicht bzw. Pflichtteilserlassvertrag unter Beteiligung eines nicht behinderten Sozialleistungsempfängers wirksam abgeschlossen werden kann, noch immer nicht höchstrichterlich entschieden.

Haben Sie zu diesem Thema Fragen oder Anregungen? Dann sprechen Sie meine Mitarbeiter oder mich gerne an.

Dr. Hannes Klühs

20 Jan., 2023

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